Nicht medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten
Medikamente üben über einen direkten Einfluß auf den Knochenstoffwechsel aus, entweder über eine Verminderung der Aktivität der Osteoklasten (knochenabbauende Zellen) oder über eine Stimulierung der Aktivität der Osteoblasten (knochenaufbauende Zellen), oder aber sie reduzieren das Sturzrisiko über eine Wirkung auf die Muskulatur bzw. auf die Übertragung von Nervenimpulsen auf die Muskeln (Vitamin D und Vitamin-D-Metaboliten). Beide Wirkungen reduzieren letztlich das Knochenbruchrisiko, was ja das eigentliche Ziel jeglicher Osteoporosebehandlung ist. Daneben gibt es aber auch noch andere, nicht medikamentöse Möglichkeiten wie spezielle Trainingsmaßnahmen (Muskelaufbautraining, Koordinationstraining) oder den Hüftprotektor, eine Art mechanischer Knochenschutz, welche das gleiche Ziel auf andere Art und Weise zu erreichen versuchen.
Der Hüftschützer (Safehip®) ist eine sehr einfache und fast schon geniale Möglichkeit, das Risiko eines Knochenbruches an der am meisten gefürchteten Stelle, nämlich am Oberschenkelhals, zu reduzieren bzw. den Oberschenkelhalsbruch auch bei einem Sturz zu vermeiden. Die Wirkung kann am besten verglichen werden mit der Wirkung eines Seitenairbags beim Auto. Genau wie dieser wirkt der Hüftschützer wie ein Seitenaufprallschutz. Dabei ist links und rechts jeweils ein dünnes Polster aus einem sehr leichten Kunststoff (Polyurethan) in eine Art Schlüpfer über den beiden Oberschenkelhälsen eingelassen. Das Material für diese Polster ist ein Produkt aus der Weltraumforschung der NASA. Im Falle eines Sturzes dämpft diese Platte einen Teil der Sturzenergie bzw. leitet diese praktisch um den Oberschenkelhals herum. Dadurch wird die auf den Oberschenkelhals einwirkende Kraft beim Sturz so weit abgemindert, dass selbst bei einem osteoporotischen Knochen der Bruch häufig verhindert werden kann. Bei einem Sturz aus Standhöhe auf die Hüfte kommt es immerhin zu einer Krafteinwirkung von ca. 3000 bis 9000 Newton (N). Die häufige Bezeichnung eines Schenkelhalsbruchs als sog. «Low-Energy-Trauma» kann ich daher nicht nachvollziehen! Eine Kraftreduktion um 2000 bis 3000 N reicht meist aus, um den Bruch des Oberschenkelhalses zu vermeiden (Becker 1997). Die derzeit verfügbaren Hüftprotektoren erreichen eine Abdämpfung der auf den Schenkelhals einwirkenden Kräfte bei einem Sturz um 2000 bis 3500 N. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass rund 40% der sturzbedingten Oberschenkelhalsbrüche damit verhindert werden können.
Allerdings sollte dieser Hüftschutz ständig getragen werden. Die meisten Oberschenkelhalsbrüche passieren nämlich im eigenen Haushalt! Daher bringt es wenig, wenn dieser Schutz nur z.B. beim Einkaufen oder beim Stadtbummel getragen wird. Leider ist die Akzeptanz der Hüftschützer bei den betroffenen Patienten immer noch sehr schlecht. Kosmetische Aspekte dürften dabei eine Rolle spielen, obwohl die Polster so dünn sind, dass sie sich eigentlich nicht störend auswirken. Anfangs ist der Hüftschutz sicher vom Tragekomfort etwas ungewohnt, nach einigen Tagen merkt man allerdings kaum noch etwas davon. So ist es eigentlich nicht zu erklären, warum immer noch nur relativ wenige Patienten davon Gebrauch machen. Kaum jemand würde heute noch ohne Sicherheitsgurt oder Airbag Autofahren. Dabei bietet der Hüftschützer einen ebenso einfachen und dabei effektiven und völlig nebenwirkungsfreien Schutz! Vor allem ältere Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Osteoporose und erhöhtem Sturzrisiko würden davon enorm profitieren.
Jeder Protektor ist besser als kein Protektor!!!!
Hier handelt es sich um ein neues Konzept zum reflektorischen Aufbau von Muskelgruppen, welche normalerweise nicht willkürlich trainiert werden können. Die Patientin bzw. der Patient steht mit den Füßen auf einer schnell vibrierenden Scheibe. Da der Körper bestrebt ist, den Kopf und den Rumpf ruhig und aufrecht zu halten, müssen alle Muskeln, die den Körper in der aufrechten Stellung halten, auf die durch diese Vibration aufgezwungene Bewegung reagieren. Das Muskelsystem «lernt» nun quasi unter dem Einfluß der Störung dieser vibrierenden Scheibe, sein Gleichgewicht zu halten. Damit können mehrere Wirkungen auf Muskeln und Knochen (muskuloskelettales System) erzielt werden:
Wirkungen auf die Haltungskontrolle
Durch das Bestreben, Kopf und Rumpf aufrecht zu halten, wird ein positiver Effekt auf die Haltungskontrolle erreicht. Darüber hinaus können Übungen zur Verbesserung der Zielmotorik auf der vibrierenden Platte durchgeführt werden, z.B. Kniebeugen oder Hüftkreisen. Da sich die Muskelkraft der einzelnen Muskelgruppen in jeder veränderten Stellung an die unterschiedlichen Bedingungen anpassen muss, kann damit ein positiver Effekt auf die koordinativen Fähigkeiten bewirkt werden. Dies sollte das Sturzrisiko günstig beeinflussen. Immerhin fordert die Vibration mit 25 Schwingungen pro Sekunde ca. 1500 Muskelanspannungen pro Minute, was einen hohen Trainingseffekt auf das neuronale System (Übertragung der Nervenimpulse auf die Muskeln) zur Folge hat.
Wirkungen auf Muskelmasse, Muskelkraft und Muskelleistung
Die reflektorisch bedingten Muskelanspannungen erzeugen daneben auch eine Förderung der Muskelkraft und der Muskelleistung, je nach Variation der Trainingsbedingungen. Durch die zyklischen und schnell ablaufenden Stimulationen sollte sich die Übertragung der Nervenimpulse auf die jeweiligen Muskeln (neuromuskuläre Koordination) verbessern. Bereits Trainingseinheiten von zweimal wöchentlich nur 2 — 3 Minuten haben in verschiedenen Studien meßbare Erfolge auf Kraft und Leistungszuwachs erbracht.
Die Knochenstruktur reagiert entsprechend dem sog. Wolff`schen Gesetz der Funktion auf Krafteinwirkung, vermittelt über die Muskulatur. Diese Krafteinwirkung führt zu kleinen «Verformungen» sowohl der Länge als auch des Querschnitts des jeweiligen Knochens, der einer Kraft ausgesetzt ist. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass zwischen Querschnitt von Knochenmaterial und Muskelquerschnitt ein direkter Zusammenhang zu bestehen scheint. Dementsprechend haben diese Studien auch einen positiven Effekt des Galileo-Trainings auf den Knochenaufbau gezeigt.
Das Training mit Galileo kann besser verstanden werden, wenn man sich einige Grundlagen der Motorik vergegenwärtigt. Unser bewußtes Planen und Denken ist ja in unterschiedlichem Umfang in die Motorik eingebunden. Die höchste Stufe der Motorik sindwillkürliche oder bewußte Bewegungsabläufe, beispielsweise wenn Sie einen Faden in ein dünne Nadelöhr einführen wollen. Dies setzt schon ein erhebliches Maß an sog. koordinativen Fähigkeiten voraus. Solche Bewegungen sind zielgerichtet und können durch ständiges Üben verbessert werden. Ihre Vollendung erreichen derartige motorische Leistungen z.B. bei einem virtuosen Pianisten. Auf einer tieferen Ebene sind automatische Bewegungsabläufe wie z.B. das Gehen oder das Laufen angesiedelt. Hier muss man sich in der Regel keine Gedanken darüber machen «wie man geht oder läuft», sondern man geht oder läuft einfach (aber auch das Gehen und Laufen muß im Kindesalter zunächst einmal erlernt werden). Allerdings können solche an sich unbewußte Abläufe auch bewußt beeinflusst werden. Wenn z.B. ein Seiltänzer einen Abgrund auf einem dünnen Seil überquert, muss er diese unbewußten Abläufe durch entsprechendes Training vervollkommnen, um nicht abzustürzen. Die tiefste Ebene von Bewegungsabläufen stellen die Reflexe dar. Wenn Sie beispielsweise auf einer Bananenschale ausrutschen, wird Ihr Körper völlig automatisch versuchen, einen Sturz entweder zu verhindern oder zumindest möglichst harmlos verlaufen zu lassen. Dies geschieht über Meldungen, welche von sog. Rezeptoren in den Muskeln, Gelenkkapseln, Sehnen und Bändern über Nerven an das Rückenmark weitergeleitet werden. Bei Reflexen werden diese «Meldungen» bereits im Rückenmark verarbeitet, um eine möglichst effektive Gegenregulation zu erzeugen. Hier ist das Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes «ausgeschaltet», da es auch viel zu lange dauern würde, bis die notwendigen Gegenmaßnahmen auf einer bewußten Ebene im Gehirn erzeugt würden. Vor allem hier wirkt sich das Training mit dem Galileo 2000 aus. Reflexe, die mit zunehmendem Alter abnehmen, können hierdurch wieder trainiert und damit verbessert werden.
Auch das Training mit dem Galileo 2000 bewirkt letztlich eine Senkung des Knochenbruchrisikos. Im Gegensatz zum Hüftschützer allerdings nicht im Sinne eines mechanischen Schutzes, sondern durch eine Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten und über einen positiven Einfluß auf die Muskulatur. Insofern ist das Galileo 2000 von der Wirkung her eher dem Vitamin D oder den Vitamin-D-Metaboliten vergleichbar, welche — allerdings über ganz andere Mechanismen — ebenfalls die Muskelkraft und die neuromuskuläre Koordination verbessern. Leider ist diese Art der Behandlung insofern etwas aufwendig, da die Patienten über einen längeren Zeitraum mehrmals pro Woche für nur ein paar Minuten ein Behandlungszentrum aufsuchen müssen, welches über diese Möglichkeit verfügt.
Orthesen
Wirbeleinbrüche verursachen einerseits akute Schmerzen und später, bedingt durch die Verformung (Verkrümmung, Buckelbildung) vor allem auch chronische Schmerzen. Als Orthesen bezeichnet man ganz allgemein technische Hilfsmittel, die dem Ausgleich von Funktionsausfällen der Extremitäten und der Wirbelsäule dienen. Orthesen stellen hier oft eine gute Möglichkeit dar, nicht nur die Schmerzen positiv zu beeinflussen, sondern auch um den Oberkörper wieder aufzurichten und die Rücken- und Brustmuskulatur zu aktivieren. Kräftige Muskeln aber stützen und schützen die Wirbelsäule. Die früher meist verwendeten sog. 3-Punkt-Korsette wurden von vielen Patienten wegen des geringen Tragekomforts (Druckpunkte, Unbequemlichkeit) oft nicht oder nur unzureichend akzeptiert. In den letzten Jahren wurden daher neue Orthesen entwickelt, die sich u.a. durch einen deutlich besseren Tragekomfort auszeichnen. Federführend an diesen Entwicklungen beteiligt war Prof. Dr. Helmut Minne.
Spinomed®
Hierbei handelt es sich um eine Rückenschiene, die kalt verformbar der Kontur der Patienten angepaßt werden kann und am Körper über eine Art Rucksackprinzip an der Schulter sowie einem Gurtsystem im Bauch- und Beckenbereich befestigt wird. Sie ist einfach anzulegen und belästigt nur in begrenztem Maß. Diese Rückenschiene bewirkt ähnlich wie das oben beschriebene Galileo über ein «Biofeedback-System» ebenfalls eine Art unbewußtes Training der Rumpfmuskulatur und sollte anfangs «einschleichend» eingesetzt werden, um die Betroffenen langsam daran zu gewöhnen und Überlastungen zu Beginn zu vermeiden. In prospektiven, kontrollierten sog. Crossover-Studien konnte gezeigt werden, dass die Kraft der Rumpfmuskulatur bei Tragen der Spinomed®-Orthese zunimmt. Dadurch kann der Rücken wieder teilweise aufgerichtet werden. Immerhin wurden damit wieder Zunahmen der Körpergröße um durchschnittlich 6 cm erreicht. Ebenso nahm die Standsicherheit und die Leistungsfähigkeit für alltägliche Verrichtungen wieder zu. Mehr als 90% der Studienteilnehmer lehnten die geplante Rückgabe der Orthese nach sechs Monaten sogar ab, was die gute Akzeptanz dieses Hilfsmittels zeigt.
Die Wirkweise dieser neuesten Orthese ist ähnlich, der Tragekomfort allerdings noch größer. Hierbei handelt es sich um eine elastische Textil-Orthese, die den Körper über eingearbeitete Züge aufrichtet, ohne die Beweglichkeit zu beeinträchtigen. Dies geschieht über spezielle, eingearbeitete Materialien mit hohem Kraft-/Dehnungsverhalten. Der Hüftgurt ist zirkulär, um die Orthese am Platz zu halten, die Zugrichtung der Schultergurte nach hinten gerichtet, um die Schultern zurückzunehmen. Die Atmung wird dabei nicht eingeschränkt. Dieses Mieder ist zudem leicht waschbar und schnell trocknend und somit für den täglichen Einsatz sehr gut geeignet. Die beiden Bilder zeigen links die Orthese und rechts deren Innenleben. Die Pfeile zeigen dabei die Zugrichtungen der elastischen Materialien an.
Vor allem der verbesserte Tragekomfort und kosmetische Gesichtspunkte prädestinieren diese elegante Lösung für den Dauereinsatz bei Osteoporosepatientinnen mit vorhandenen Wirbeleinbrüchen.